LG Berlin: ICO-Tokens doch keine Wertpapiere? – Quo vadis?


Bereits am 27. Mai 2020 hat die 2. Zivilkammer des Landgerichts Berlin (Az.: 2 0 322/18) entschieden, dass es sich bei im Rahmen eines Initial Coin Offering („ICO“) angebotenen Token nicht um Wertpapiere i.S.d. § 2 Wertpapierprospektgesetz („WpPG“) handelt, da es an der erforderlichen Verbriefung fehle. Damit setzt sich die Kammer in Widerspruch – nicht nur zur herrschenden Meinung in der juristischen Literatur – sondern auch zur Verwaltungspraxis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen („BaFin“). Aus dieser Divergenz zwischen BaFin und Rechtsprechung folgt für die Praxis – wie so oft – vor allem eins: Rechtsunsicherheit.

Die Kammer hat in der Sache als erstes deutsches Gericht über das Vorliegen der Voraussetzung der Prospekthaftung bei einem ICO entschieden. Schon deshalb hat das Urteil besondere Aufmerksamkeit erlangt. Die gerichtliche Aberkennung der Eigenschaft von Token als Wertpapiere i.S.d. WpPG mangels Verbriefung wirft jedoch für die Praxis die weitreichenderen Folgefragen auf. Das dürfte über die (haftungsrechtliche) Entscheidung in der Sache hinaus Wellen schlagen.

Zwischenstopp: Rechtsunsicherheit

Erneut sieht sich der innovative Finanzierungsmarkt abseits von traditionellen Finanzintermediären mit einem weitreichenden Urteil eines Berliner Gerichts konfrontiert. Die Situation erinnert an die Entscheidung des Kammergerichts Berlin vom 25. September 2018. In diesem war die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass Bitcoins keine Finanzinstrumente im Sinne des Kreditwesengesetzes („KWG“) seien und nebenbei unter Hinweis auf die Gewaltenteilung noch mit deutlichen Worten das rechtsgestaltende Tätigwerden der BaFin kritisiert.

In dem im Mai entschiedenen Fall hat nun das Landgericht Berlin die allgemeinen Grundsätze der Prospekthaftung im engeren Sinne mit der Begründung angewandt, dass es sich bei den im Rahmen des ICO ausgegebenen Token mangels Verbriefung nicht um Wertpapiere i.S.d. WpPG handeln würde. Diese Aussage dürfte äußerst überraschend sein, weil jedenfalls der aufsichtsrechtliche Wertpapierbegriff nach ganz herrschender Meinung und nach der ständigen BaFin-Verwaltungspraxis eine Verbriefung schlichtweg gar nicht voraussetzt.

Die entgegengesetzte Ansicht – die also für ein Wertpapier im aufsichtsrechtlichen Sinne eine Verbriefung als konstitutiv ansieht – erscheint angesichts des eindeutigen Wortlauts § 2 Abs. 1 des Gesetzes über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz – „WpHG“) kaum vertretbar. Dort heißt es ausdrücklich, die dort aufgezählten Finanzinstrumente seien „Wertpapiere im Sinne dieses Gesetzes […], auch wenn keine Urkunden über sie ausgestellt sind“. Das Ausstellen einer Urkunde meint nichts anderes als die Verbriefung in Urkunden, sodass aus § 2 Abs. 1 WpHG eindeutig hervorgeht, dass es einer Verbriefung gerade nicht bedarf, damit ein Wertpapier im aufsichtsrechtlichen Sinne vorliegt.

Anders indes der allgemeine zivilrechtliche Wertpapierbegriff. Danach ist ein Wertpapier eine Urkunde, in der ein privates Recht in der Weise verbrieft wird, dass zur Geltendmachung des Rechts das Innehaben der Urkunde erforderlich ist.

Zunächst mag daher der Eindruck entstehen, dass das Landgericht Berlin den zivilrechtlichen Wertpapierbegriff angewandt hat, indem es die fehlende Verbriefung als Grund gegen die Wertpapier-Eigenschaft der ICO-Token anführt. Allerdings heißt es in dem fraglichen Urteil des Landgerichts Berlin ausdrücklich: „Sofern es an einer Verbriefung fehlt, scheidet eine Einordnung als Wertpapier gemäß WpPG aus“. Darin ist eine eindeutige Bezugnahme auf den aufsichtsrechtlichen Wertpapierbegriff zu erkennen.

Das Landgericht Berlin setzt sich folglich eindeutig in Widerspruch zur herrschenden Meinung und ständigen Verwaltungspraxis bzgl. des aufsichtsrechtlichen Wertpapierbegriffs. Das wesentliche Argument hinter der Entscheidung des Landgerichts war wohl, dass vereinzelt vertreten wird, dass die für ein Wertpapier (auch im aufsichtsrechtlichen Sinne) erforderliche Umlauffähigkeit und Fungibilität, nur dann als erreicht angesehen werde, wenn ein gutgläubiger, einredefreier Erwerb möglich ist. Dies wiederum käme jedoch nur nach §§ 929, 932 BGB für Sachen und damit urkundsmäßig verbriefte Wertpapiere überhaupt im Betracht. Diese Argumentation, die allerdings nur sehr vereinzelt vertreten wird, ist letztlich unvereinbar mit dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 WpHG.

Nur eine Qualifikation als Wertpapier unabhängig von einer Verbriefung entspricht zudem dem Zweck des WpHG, der darin erkannt wird, eine kapitalmarktorientierte Regulierung und Überwachung des Marktverhaltens und der Marktteilnehmer zu ermöglichen und Aufsichtslücken zu schließen.

Nichtsdestotrotz hat diese bisher nur vereinzelt vertretene Ansicht hinsichtlich des aufsichtsrechtlichen Wertpapierbegriffs in Gestalt des fraglichen Urteils des Landgerichts Berlin unerwartete Unterstützung durch die Judikative erhalten. Infolge des Urteils stellt sich nun (erneut) die Frage nach der Qualifikation von ICO-Token im Zusammenhang mit der Erstellung eines Verkaufsprospekts sowie etwaiger Haftungsfragen.

Entgegenstehende Verwaltungspraxis der BaFin: ICO-Token als Wertpapiere sui generis

Eigentlich hatte die BaFin durch ihre Stellungnahme vom 20. Februar 2018 (hier) zu einem gewissen Grad Rechtssicherheit für ICO-Emittenten geschaffen. Voraussetzung für die Wertpapiereigenschaft ist demnach neben der Handelbarkeit und der Ausstattung mit wertpapierähnlichen Rechten deren freie Übertragbarkeit. Gerade die Handelbarkeit und die freie Übertragbarkeit werden durch die Übertragung auf die Blockchain ermöglicht.

Entscheidend für das Kriterium der Handelbarkeit ist, dass ein Token hinreichend standardisiert und gleichartig ausgestaltet ist, wovon regelmäßig auszugehen ist.

Übertragbarkeit bedeutet indes, dass die Tokens in technischer Hinsicht auf andere Nutzer übertragen werden können, ohne dass der Token im Rahmen der Übertragung auf einen anderen Erwerber in seinem rechtlichen Gehalt verändert wird, was bei gängigen Token-Standards in aller Regel unproblematisch möglich ist.

Schließlich müssen die mit den Token verknüpften Rechte mitgliedschaftliche und/oder vermögensmäßige Rechte darstellen, was stets im Einzelfall zu prüfen ist, aber bei typischen Security Tokens bei sog. Security Token Offerings („STO“) der Fall ist.

In Anwendung dieser Verwaltungspraxis hat die BaFin Anfang 2019 den ersten Wertpapierprospekt zu einem STO in Deutschland mit der Begründung gebilligt, dass die Handelbarkeit des Security Token am Finanzmarkt durch die Übertragung auf die Blockchain so deutlich erhöht wurde, dass dies eine Qualifizierung der tokenisierten Vermögensanlage als Wertpapier sui generis zur Folge habe. Auf eine etwaige Verbriefung des Finanzinstruments kam es der BaFin mithin überhaupt nicht an. Diese durch die Verwaltungspraxis geschaffene Rechtssicherheit ist nun durch das Urteil des Landgerichts Berlin ins Wanken geraten.

Was bedeutet das nun für die ICO-Praxis?

Da das Landgericht Berlin die Verbriefung als konstitutive Eigenschaft von Wertpapieren im aufsichtsrechtlichen Sinne angesehen hat, befindet sich der ICO-Emittent aufgrund dieser Divergenz zwischen BaFin und LG Berlin in einer Zwickmühle: Die BaFin – als ex-ante Instanz – wird (nach bisheriger ständiger Verwaltungspraxis) wohl weiterhin die Vorlage eines Wertpapier-Verkaufsprospekts verlangen (da Security Token = Wertpapiere i.S.d. WpPG). Andererseits besteht für den ICO-Emittenten zumindest die Gefahr, dass die Rechtsprechung – als ex-post Instanz – zu der Einschätzung gelangt, es handle sich bei den ausgegebenem ICO-Token mangels Verbriefung nicht um Wertpapiere i.S.d. WpHG / WpPG. In der Folge dürften uU (neuartige) haftungsrechtliche Konsequenzen, die es im Vorfeld eines ICO unbedingt zu klären gilt, drohen.